14 Tage unter Dampf
Mein Praktikum im Osnabrücker Spitzenrestaurant „La Vie“
Eigentlich ist Kochen voll mein Ding. Ich arbeite als Foodjournalistin, habe zwei Kochbücher geschrieben, füttere wöchentlich meinen Blog, habe Köche für Geschichten interviewt, beobachtet, ausgefragt. Ganz schön gut im Thema, dachte ich. Bis ich als Praktikantin zwei Wochen in die Küche des Spitzenrestaurants „La Vie“ in meiner Heimatstadt Osnabrück eintauchen durfte. Ich wollte die Welt, über die ich täglich schreibe, unbedingt von der anderen, der praktischen Seite kennenlernen. Und merkte, dass ich blutige Anfängerin bin.
Erste Überraschung: Arbeitsbeginn um zwölf Uhr. „Das reicht völlig“, sagte mir Chef Thomas Bühner. Sonst meine Mittagspausenzeit, aber hier ticken die Uhren anders. Einige der 14 Köche trudeln um zehn ein, einige um elf und andere um zwölf. Und dann checkt mich Timo Fritsche, die rechte Hand des Patrons, erst mal ab: „Wie fit bist du denn so in der Küche?“ Hm, gute Frage, denke ich, und stapele lieber tief. Immerhin stehe ich in einer der zehn besten Küchen Deutschlands, wenn nicht gar der Welt. Drei Michelin-Sterne, Höchstnote mit 5 F im Feinschmecker. Ich koche viel und probiere immer wieder Neues aus, aber ich habe noch nie eine Auster oder einen Hummer geknackt, einen Lammrücken zerteilt oder mich gar an schwarze Trüffeln gewagt, die so teuer sind, dass mancher dafür eine Woche arbeiten müsste – nämlich 1000 Euro pro Kilo.
Solche Delikatessen bleiben auch erst einmal in weiter Ferne. Auf meiner Arbeitsplatte landet dafür ein Berg Gemüse, den ich klein schnippeln soll. Natürlich mit exzellenten Messern. Überraschung Nummer zwei: Messer sind ein privates Heiligtum, jeder Koch hat seine eigene kleine Sammlung, netterweise leiht mir Souschef Tobias Pietzsch eins, damit ich loslegen kann. Was sich ziemlich banal anhört, ist in der Top-Küche unglaublich wichtig. Denn keine Sauce, kein Ragout und auch kein Personalessen wird hier ohne einen gescheiten Fond zubereitet. Und den gibt es natürlich nicht aus dem Glas, sondern aus Gemüse. Ich schneide also acht große Zwiebeln in Würfel (und bin am Heulen, aber dagegen hat hier auch keiner einen Tipp!), acht Karotten, eine Sellerieknolle und etwas Knoblauch. Das Ganze wird mit Sonnenblumenöl mindestens zehn Minuten geröstet, bis es schön karamellisiert, dann wird Wasser angegossen, alles über drei bis vier Stunden reduziert und blubbernd stehen gelassen – so lange, bis das ganze Aroma im Fond ist. Natürlich kommt das ausgekochte Grünzeug anschließend weg.
Thomas Bühner schüttelt den Kopf, wenn er daran denkt, wie wir Normalkocher klassischerweise Spargel zubereiten: „Komisch, die Leute kochen Spargel in reichlich Wasser und freuen sich, dass sie zwei Gerichte haben: den Spargel und den Spargelfond.“ Doch das sei Blödsinn: „Der ganze Spargelgeschmack befindet sich im Fond. Die Stangen sind nur noch schnittfestes Wasser.“ Diese Denke ist bezeichnend für die Art, wie hier gearbeitet wird: volle Geschmackskonzentration überall – ganz egal, wie lange es dauert, ganz egal, wie aufwendig, Hauptsache, am Ende steht intensivstes und natürliches Aroma. Und so werden auch Blumenkohlröschen, Kartoffel- oder Karottenscheiben in hitzetauglichen Klarsichtbeuteln sanft gegart, um den Geschmack einzufangen. Unterm Pass, den typischen Wärmelampen, trocknen Scheiben von Roter Bete, Topinambur oder kleinste Tomatenhälften stundenlang. Das funktioniert auch mit Fleisch: Das Lammfilet aus dem aktuellen Menü wird nicht einfach zischend in der Pfanne gebraten, sondern erst mal in Vakuumbeutel verpackt und bei exakt 54 Grad – je nach Dicke unterschiedlich lange – im Wasserbad gegart, sodass das Fleisch schön saftig bleibt.
Während ich vom Gemüseposten zwei Schritte weiter zum Fischposten wandere, als Nächstes zum Fleischposten gehe und zwischendurch in der Patisserie haltmache, schnappe ich unglaublich viel auf. Warum werden Kirschtomaten und Koriandersamen für ein Dessert verwendet? Ist das nicht ein bisschen pikant? Ich lerne: Nein, denn Tomaten sind im Grunde ganz schön süß! Warum müssen die Krustentierschalen für den Fond mit Cognac abgelöscht werden? Und werden Korianderblätter, die mit Reismehl gemixt werden und dann das Lammfilet umhüllen, in der Pfanne nicht wahnsinnig schnell schwarz? Ich fürchte fast, den Köchen mit meinen ständigen Fragen auf den Wecker zu gehen … andererseits sind Praktikanten genau dafür da. (Zum Kaffeekochen hat mich übrigens niemand geschickt.)
Was mir zunächst gar nicht in den Kopf will, ist die Sache mit den Walnusskernen. Steve Mayer, der ein Jahr auf der „MS Europa“ gekocht hat, häutet nun schon über eine Stunde in aller Seelenruhe Walnüsse. Und es kommt, wie es kommen musste: „Hey, Stefanie, willst du auch mal?“ Puh! Aber auch das gehört hier dazu. Denn auf dem Käseteller sehen sie ganz weiß nun mal schöner aus als mit ihren braunen, teils leicht bitteren Häuten.
Typisch Spitzenküche: Den Satz „Egal, das merkt der Gast doch sowieso nicht“ würde man hier niemals hören. Nach meiner Walnuss-Qualifikation darf ich beim zweiten Souschef Karsten Fricke Tomaten abziehen, Mangos würfeln und – Trommelwirbel – Haselnusskerne häuten. Daraus entsteht dann ein Gazpacho für eine Vorspeise. Neben all dieser Stillarbeit plaudern wir über Variationsmöglichkeiten verschiedener Aromen. Denn das habe ich mich immer schon gefragt: Wie kommen die Köche eigentlich auf neue kreative, abgedrehte oder ganz logische Ideen? Ein richtiges Rezept kann mir leider niemand geben. Erfahrung scheint entscheidend zu sein. Und Mut! Nur wer ausprobiert, erfährt etwa, dass Auberginen und Minze super harmonieren und mit etwas Läuterzucker eingekocht beinahe wie Mojito schmecken; ein wenig verrückt und faszinierend. Wie so vieles hier für mich.
Für die Jungs – Mädels gibt es in der Spitzengastronomie nach wie vor kaum – ist es allerdings normaler Arbeitsalltag. Sie witzeln, necken sich und plaudern – nebenbei läuft das Radio. Es ist schlicht ihr Job. So wie andere junge Männer mit Mitte 20 im Büro oder in der Werkstatt arbeiten. Apropos. Ich komme mir hier ganz schön alt vor – und das mit 26 Jahren –, denn kaum einer ist hier über 25, manche sind erst 21. Und das sieht in anderen Spitzenküchen ähnlich aus: Spätestens mit 35 Jahren ist nämlich Schluss. Viele machen sich dann selbstständig, etwa mit einem eigenen Restaurant, bei dem sie ihre Arbeitszeiten besser steuern können, oder sie machen etwas ganz anderes: Gastroberatung, Handel, was auch immer. Nach 14 Tagen kann ich verstehen, warum: Wer morgens zwischen 10 und 12 Uhr in die Küche kommt und sie erst nachts wieder verlässt, dabei nahezu nonstop gestanden hat, weiß, was er getan hat – und dass da in puncto Privatleben noch Luft nach oben ist, versteht sich von selbst. Ins Fitness studio gehen viele gegen Mitternacht – alle Achtung! Doch trotz der langen Arbeitszeiten liegen Power, Motivation und enorme Lust aufs Kochen spürbar in der Luft.
17.30 Uhr. Plötzlich ein Break. Großes Aufräumkommando. Der Fußboden wird gewischt, die Küche picobello aufgeräumt, dann strömen alle in den Gruppenraum. Zeit fürs Personalessen. Wieder eine Überraschung: Das hat nichts mit dem fine-dining-Menü zu tun, das die Gäste später im Restaurant bekommen werden. Es ist lecker – logisch, immerhin kochen hier Spitzenköche –, aber es kommen normale Gerichte wie Bratkartoffeln oder Käsenudeln auf den Teller. Salat gibt’s jeden Abend – einmal auch von mir. Alle atmen einmal durch und stärken sich für den Hochleistungsabend. Geredet wird kaum. Jeder nimmt sich etwas Zeit für sich, schaut aufs Smartphone. Die Ruhe vor dem Sturm. Der Arbeitsalltag hat zwei Etappen. Die erste dauert bis zum Personalessen um 17.30 Uhr, die zweite fängt um 19 Uhr an. Der Service beginnt, die Stimmung wird spürbar konzentrierter und angespannter. Klar, draußen im Restaurant sitzen jetzt die Gäste, die für ihr Menü bis zu 250 Euro bezahlen und deshalb zu Recht nur das Beste erwarten. Mal ganz abgesehen vom Weltruf eines solchen Restaurants, der jeden Abend verteidigt werden muss. Denn wer weiß, vielleicht sitzt heute ein Tester inkognito an einem Tisch? Da muss jeder Handgriff sitzen.
Nun folgt der letzte Schliff: Fisch wird à la minute im 54 Grad warmen Öl confiert und auf die Teller gesetzt, die Saucen werden im Wasserbad warm gehalten und in letzter Sekunde als kleine Punkte oder Striche angerichtet. Fleisch wird im Ofen bei höchstens 120 Grad gegart, dann in einer Wärmeschublade zwischengelagert und frisch für jeden Teller in 20 Sekunden kross gebraten – alles perfekt einstudiert wie beim Ballett. Bis zu vier Köche „doktern“ zeitgleich an einem Teller – „fast wie im OP“, scherzt Thomas Bühner und legt ein Stück confierte Rotbarbe auf den Teller. Das lässt er sich auch als vielbeschäftigter Chef nicht nehmen: Den Fischgang betreut er immer selbst.
Schon nach dem ersten Tag ist meine Kladde mit Notizen gefüllt. Fettflecken und Saucenspritzer haben ihre Spuren hinterlassen. Als ich um Mitternacht nach Hause komme, springe ich sofort unter eine warme Dusche, den Essensgeruch aus den Haaren waschen. Dann falle ich ins Bett. Am nächsten Tag geht es weiter. Nach 14 Tagen habe ich meine erste Auster geknackt und meinen ersten Lammrücken zerlegt. Ich weiß jetzt: Spitzenküche ist keine Zauberei. Dafür zwei Teile Handwerk und ein Teil harte Arbeit – abgeschmeckt mit einer Prise Kunst, für die es keine Erklärung gibt.
Hinter den Kulissen bei…
Dieser Beitrag ist übrigens auch in der neuen Backstage-Reihe im jungen Feinschmecker-Magazin „FOODIE“ erschienen (Ausgabe 01/2017). In der Backstage-Reihe blicke ich hinter die Kulissen von spannenden Restaurants, Metzgereien, Winzerhöfen, Bäckereien und anderen spannenden Unternehmen und Betrieben aus der Foodie-Welt!
FOODIE ist das junge Schwestermagazin vom FEINSCHMECKER. Im Mittelpunkt: Gute, moderne und trendige Küche, alltagstaugliche, aber spannende Rezepte, Tipps für Restaurants, Cafés und Bistros auf Reisen und Geschichten über spannende Gastro-Start-Ups und Restaurants.