Sterneküche zu Hause – funktioniert das?!
Lockdown-Küche im Selbstversuch
Pizza, Sushi oder Ente süß-sauer gibt es schon lange „außer Haus“. Seit diesem Jahr denken auch Spitzenköche über Abhol- und Lieferangebote nach – der Lockdown macht erfinderisch. Auch das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Osnabrücker Restaurant „Kesselhaus“ hat jetzt sein erstes Außer-Haus-Menü im Angebot: In einem Pappkarton stecken drei Gourmet-Gänge für daheim. Funktioniert das wirklich? Wir haben es ausprobiert.
Hier ein paar kleine Tupfer, da ein Schäumchen, Fleisch und Fisch genau auf den Punkt gegart – Spitzenküche ist eine echte Herausforderung: Nicht nur auf den Geschmack kommt es an, sondern auch auf die Proportionen, die Texturen, die Temperaturen und nicht zuletzt die Optik. Und das „zum Mitnehmen“ oder gar von einem Boten ins Haus geliefert…? Vor Corona hätten die allermeisten Sterneköche bei diesem Gedanken sicherlich ganz entschieden mit dem Kopf geschüttelt.
Viele Spitzenrestaurants haben sich dementsprechend auch nach neun Monaten Corona-Strapazen noch nicht an Liefer- oder Abholangebote gewagt. Zu groß erscheint das Risiko, dass das, was am Ende daheim aufgetischt wird, nicht tatsächlich an das erinnert, was sonst in den besternten Restauranträumen serviert wird. Die meisten, die sich im Lockdown doch darauf einlassen, brechen ihre kulinarische Handschrift kurzerhand auf sogenanntes Soulfood herunter und bieten statt Gourmet-Kreationen Currys, Eintöpfe oder Königsberger Klopse an – lecker, aber keinesfalls sterneverdächtig.
Nur sehr wenige Spitzenköche wagen sich an Außer-Haus-Menüs, die sich an ihren gewohnten Restaurant-Standards orientieren. Randy de Jong, Sternekoch aus dem Osnabrücker Restaurant „Kesselhaus“, hat den Ehrgeiz, genau das anzubieten: „Kesselhaus“-Küche für zu Hause. Seit Mitte November kann sein erstes Außer-Haus-Menü bestellt werden: Drei Gänge plus Butter und hausgebackenes Brot für 68 Euro pro Person.
Das ist definitiv kein Schnäppchen für ein ganz normales Abendessen zu Hause. Doch das soll es auch gar nicht sein, betont der junge Spitzenkoch: „Es soll etwas Besonderes sein, das man sich jetzt gönnt“, sagt der 27-Jährige. Dieses Konzept scheint anzukommen. „Wir haben schon nach dem ersten Wochenende ganz tolles Feedback bekommen“, freut sich Gastgeberin und „Kesselhaus“-Inhaberin Thayarni Garthoff. „Unsere Gäste schicken uns Bildern, sie zelebrieren ein richtiges Event aus dem Menü!“
Damit das gelingt, ist viel Vorarbeit nötig. Mit drei Kollegen steht de Jong in diesen Tagen täglich in der „Kesselhaus“-Küche in der Osnabrücker Neulandstraße, um die georderten Menü-Boxen für das Wochenende vorbereiten. „Wir haben gedacht, wir wagen es jetzt einfach. Wir müssen was zu tun haben, und es ist auch für uns eine spannende Herausforderung“, sagt der aus den Niederlanden stammende Küchenchef.
Eine Herausforderung?!
Tatsächlich ja: Denn wenn es das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete „Kesselhaus“-Niveau sein soll, kann de Jong nicht einfach jedes x-beliebige Gericht auf die Karte setzen. „Ich muss mit Techniken und Geräten arbeiten, die die Leute zu Hause zur Verfügung haben.“
Ein Beispiel: In vielen seiner Gänge arbeitet der Sternekoch normalerweise gern mit verschiedenen Konsistenzen und Temperaturen. Es kommt Gefrorenes zum Einsatz oder ein cremiges Eis. „Das kann ich hier nicht machen.“ Außerdem ungünstig: „Alles, was man braten muss – das kann schief gehen zu Hause.“
Natürlich kann ein Steak sous vide in der Restaurantküche vorgegart werden, sodass es zu Hause nur noch kurz in die Pfanne muss. Aber was, wenn das Steak dann doch etwas zu lange erwärmt wird? Schon ist es durchgebraten, und der Gast ist enttäuscht. „Ich weiß nicht, wer welche Pfannen oder welchen Ofen hat und wer wie viel Erfahrung hat. Das sind Faktoren, die ich nicht wissen kann“, erklärt der Spitzenkoch.
Keine Kochkenntnisse erforderlich
Also umgeht er solche Fallstricke von vorneherein: Ein Steak, das perfekt „auf den Punkt“ gebraten werden muss, oder ein Stück Fisch, das knusprig auf der Haut gebraten wird – ambitionierte Hobbyköche bekommen das zwar hin, vorausgesetzt werden kann es aber nicht. „Man braucht Sachen, die jeder aufwärmen kann, auch ohne dass man kochen kann“, sagt de Jong. Ansonsten sei die Gefahr zu groß, dass die Gäste am Ende enttäuscht sind – und dann ärgere man sich natürlich über 68 Euro, das sei ganz verständlich.
Kochen nach Zahlen
Seine drei Menügänge hat der Küchenchef deshalb so konzipiert, dass nichts schief gehen kann. Die einzelnen Komponenten sind einzeln in Beuteln oder Kästen verpackt und mit Nummern für die Gänge 1 bis 3 versehen – sozusagen „Kochen nach Zahlen“. Dazu gibt es auf der Internetseite des Restaurants eine Anleitung, aus der hervorgeht, wie lange welche Zutat wie stark erwärmt werden soll. Vieles kann sogar zimmerwarm oder kühlschrankkalt aufgetischt werden. Saucen, Cremes und Fleisch mit Sauce sind in typischen Sous-vide-Beuteln oder Plastikdosen verpackt.
Beim Blick in die Box fällt sofort auf: Es ist ein ganz ordentlicher Berg Verpackung, der am Ende zusammenkommt und im Müll landet. „Das ist leider kaum anders zu lösen“, bedauert de Jong. Wo immer es geht, sei bereits bei der ersten Außer-Haus-Box auf recyclebare Verpackungen gesetzt worden. Doch nicht alle Größen und Verpackungen seien leicht und dann auch noch erschwinglich in abbaubaren Varianten erhältlich. „Ich denke, da wird sich auf dem Markt noch einiges tun“, hofft der Sternekoch. Ziel sei es definitiv, die Boxen irgendwann ausschließlich mit recyclebaren Verpackungen bestücken zu können.
Los geht’s!
Legen wir also los! Für die Vorspeise hat Randy de Jong mit seinem Team ein winterliches Rotkohl-Ceviche vorbereitet. Ceviche ist eigentlich ein Sommergericht. Fisch, in diesem Fall Wolfsbarsch, wird in einem säuerlichen Sud aus Limette und Salz ohne Temperaturzufuhr „gegart“: Die Säure führt dazu, dass das Fischeiweiß denaturiert – ein ähnlicher Effekt wie Garen durch Hitze. Rotkohlsaft, Limettensaft, Salz und rote Zwiebeln geben dem Wolfsbarschfilet in der Vorspeise ein tolles Geschmacks- und Aromenspiel. Man muss ihn nur noch aus der Folie nehmen und auf Tellern platzieren. Daneben soll man aus der Avocadocreme und der Rotkohlcreme kleine Punkte und Tupfen platzieren.
Überraschungseffekt: „Wow, das kann ich?!“
Und schon jetzt tritt daheim der erste Überraschungseffekt ein: „Hey! Ich kann Tupfen und Pünktchen – wie in der Sterneküche!“ Tatsächlich regt die Menübox den Hobbykoch dazu an, einfach mal anders anzurichten, Gewohntes zu überdenken. Und es ist gar nicht so schwer, zumal ja alles schon von Profis vorbereitet worden ist. Wer es mit den Tupfern und Cremes auch zukünftig mal eigenständig probieren möchte, dem empfiehlt der „Kesselhaus“-Küchenchef wiederverwertbare Spritzflaschen, die auch Privatpersonen im Fachhandel problemlos erhalten.
Die Vorspeise: Rotkohl-Ceviche mit Mungobohnensalat und Avocado
Zurück zum Rotkohl-Ceviche: Wolfsbarsch und Creme-Tupfer sind nun auf dem Teller platziert. Ebenso zwei Nocken von einem Mungobohnen-Salat, der ebenfalls kräftig mit Rotkohl abgeschmeckt worden ist. Fehlen nur noch ein paar Kresseblättchen und der Rotkohlsud, der ganz zum Schluss angegossen wird – ein echter Farbklecks!
Und, so viel ist sicher: So viel Rotkohlgeschmack wird man zu Hause bislang selten auf einem Löffel gehabt haben – eine spannende Erfahrung, die Hobbyköche und Foodies sicher auch für künftige eigene Rotkohl-Experimente inspirieren dürfte.
Der Hauptgang: Hochrippe mit Pastinaken, Pflaumen und Süßkartoffel
Nach einem gelungenen Auftakt weiter zum Hauptgang. Auf der Karte stehen geschmorte Hochrippe mit dunkler Sauce, Pastinake, Pflaume und Süßkartoffel. Auch hier ist der Aufwand überschaubar, der Genussfaktor aber umso höher: Das vakuumierte Stück Hochrippe mit Sauce ist im Prinzip fertig gegart und wird lediglich zehn Minuten im warmen Wasserbad erwärmt. Das gilt auch für die verschlossenen Beutel mit Cremes aus Pastinake und Pflaume.
Überhaupt sieht man hier sehr gut, wie die Kombination aus dem sogenannten „Mise en Place“ – also der Vorbereitung – und dem Kochen in der Spitzengastronomie vielfach funktioniert: Alles wird vormittags vorgekocht, sauber in Spritztuben, Beutel oder Flaschen abgefüllt und zum Anrichten abends nur noch indirekt im Wasserbad erwärmt. Nur so ist ein strukturiertes Anrichten und Arbeiten in der stressigen Service-Phase überhaupt möglich.
Aber zurück in die heimische Küche: Die vorbereiteten und fertig abgeschmeckten Gemüsewürfel aus Pastinake, Süßkartoffel und Pflaume kommt kurz in den Ofen, dann wird alles warm angerichtet: Das Fleisch aus dem Wasserbad, das Gemüse aus dem Ofen, die Cremes in feinen Tupfen, die frittierten Pastinakenchips, die Kresse und schließlich die Sauce.
Was entspannt klingt, bedeutet tatsächlich einen gewissen Zeitdruck. Denn wer sich bemüht, all die Zutaten einigermaßen hübsch und wie in der Anleitung vorgesehen auf dem Teller anzurichten, ahnt genau jetzt, warum es praktisch ist, dass Restaurantküchen mit Wärmelampen ausgestattet sind… Bis alles auf dem Teller ist, vergehen beim Hobbykoch durchaus ein paar Minuten und das Fleisch verliert derweil an Temperatur.
Für das nächste Mal merken wir uns: Das Fleisch lieber erst knapp aus dem Wasserbad nehmen und die Zeit stets im Auge haben. Immerhin muss bei einem Sternemenü alles stimmen – auch so sollte es auch zu Hause sein.
Jetzt wird’s süß! Quitte und Birne treffen weiße Schokolade und Buchweizen
Nun wird es Zeit für das Dessert. Dafür hat das „Kesselhaus“-Team ein Törtchen aus Quitten, weißer Schokoladencreme und Biskuit vorbereitet. Es wird einfach auf den Teller gesetzt und mit Birnenwürfeln, Birnencreme, gepufften Buchweizenstückchen, karamellisierter weißer Schokolade und etwas Kresse belegt.
Buchweizen? „Ich liebe Buchweizen“, verrät Küchenchef de Jong. Er kocht die Körner, entzieht ihnen anschließend im Dörr-Automat die Feuchtigkeit und frittiert sie im Fett aus. Das Ergebnis: Knusprig-nussige Buchweizenkörner, die das süß-fruchtige Zusammenspiel auf dem Teller perfekt ergänzen. Und die weiße Schokolade, die in karamellisierter Form auf das Törtchen gesetzt wird? „Wir streichen die Schokolade auf eine Silikonmatte und backen sie einfach im Ofen!“, verrät de Jong. Nun fehlt nur noch die Birnen-Quitten-Sauce, die durch etwas weiße Schokolade angebunden worden ist – fertig ist das Fünf-Minuten-Dessert auf Sterneniveau für zu Hause. Es entpuppt sich als wunderbare Fruchtkomposition aus Birne, Quitte und nussigen Buchweizen- und Karamell-Noten.
Fazit
Sterneküche „außer Haus“ – geht das also? Nach unserem Test können wir sagen: Ja, es geht, wenn es von den Profis in der Restaurantküche gut durchdacht wurde. Ein Menü zu kreieren, das zu Hause weder Kochkenntnisse noch große Technik erfordert, doch zugleich spannend und raffiniert ist und für einen besonderen Abend mit kulinarischen Erinnerungen sorgt – genau das ist Randy de Jong mit seinem „Kesselhaus“-Team gelungen.
Die einzige klitzekleine Herausforderung ist das Thema „Tempo“ beim Anrichten. Hier zeigt sich, dass es gar nicht so einfach ist, alle Komponenten in perfekter Optik und optimaler Temperatur zugleich auf den Teller zu bringen. Hut ab, was da in den Profiküchen routiniert und blitzschnell am Pass passiert! Ein Tipp für zu Hause: Viele Hände, schnelles Ende! Warum nicht die Menü-Box zum Anlass nehmen, einfach mal zu zweit anzurichten? Der eine kümmert sich ums Gemüse, der andere ums Fleisch, und schon sollte es mit Zeit und Temperatur schon viel besser klappen. Zumal das Sternedinner zu Hause zugleich ein spannender Kochkurs ist, der auch bei ambitionierten Hobbyköchen so manchen Aha-Effekt auslöst.
Hinweis: Dieser Beitrag ist im November 2020 exklusiv bei NOZ Medien veröffentlicht worden.